Bertram und der Bärenmann

Leseprobe

Bertram war neu in der Stadt. Zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester war er vor ein paar Tagen angekommen, nachdem sie eine beschwerliche Reise hinter sich gebracht hatten. Der Weg war voller Gefahren gewesen und bei dem Gedanken daran neigte Bertram seinen Blick auf den Boden. In seiner Fantasie wachte er morgens in seinem Bett auf, roch die alten bekannten Gerüche, die aus der Küche nach oben in sein Zimmer drangen und vernahm die Stimme seiner Mutter, die ihn ungeduldig nach unten rief. Das alles fehlte ihm jetzt. Die Stimmen seiner Eltern, das vergnügte Spielen mit seinen Freunden. Am Allermeisten fehlte ihm jedoch der warme Blick seiner Mutter, wenn er seinen Kopf morgens langsam durch den Türspalt zwängte. Das alles schien nun schon so weit hinter ihm zu liegen. Sie alle waren nicht mehr da. Das Feuer hatte sich so schnell ausgebreitet und weder seine Mutter noch sein Vater oder seine ältere Schwester hatten es geschafft den Flammen rechtzeitig zu entkommen. Die Gesellen, die bei seinem Vater in der Werkstatt gearbeitet hatten, waren wohl zuerst dem Feuer zum Opfer gefallen. Das ganze Haus war in sich zusammengesunken, übrig geblieben waren nur die verkohlten Stämme. Als Bertram zusammen mit seiner Schwester aus dem Wald zurückgekehrt war, sah er viele eifrige Männer, die versuchten den Brand zu löschen. Schwerer, dichter Nebel lag über dem Gebiet, wo das Haus seiner Eltern gestanden hatte. Bertram hielt die Hand seiner Schwester fest umklammert, die wimmernd neben ihm stand. Von überall her liefen die Leute herbei, es war laut und der Nebel der Flammen stach in seinen Augen. Mehr wusste Bertram nicht. An das, was danach geschah, konnte er sich nicht mehr erinnern. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, wie das Feuer ausgebrochen war. Wolfram, Bertrams Bruder, war den Flammen nur entgangen, weil er genau zu diesem Zeitpunkt Schuhe an einen Kunden ausgeliefert hatte und deswegen nicht in der Werkstatt gewesen war. Obwohl Bertram seinen älteren Bruder nicht besonders mochte, war er doch froh darüber sich in seinen Armen verkriechen zu können.

Wie sollte es nun weitergehen? Eigentlich hätten sie in der Stadt bleiben müssen, man hätte für die Kinder des Schustermeisters Renatus gesorgt, wie es in solchen Fällen üblich war. Doch Wolfram hatte andere Pläne. Er wollte nicht in der Stadt bleiben, in der seine Mutter umgekommen war. Noch am selben Abend weihte er Bertram und Anna in seinen Plan ein. »Ihr wisst doch, dass Mutter einen Bruder in Münster hat, nicht wahr?« Bertram und Anna nickten zustimmend. »Ich möchte mit euch zu ihm«, fuhr er ruhig fort. »Er ist Schustermeister, wie Vater es war. Onkel Reinold hat eine Werkstatt und beschäftigt mich vielleicht eine Weile als Geselle. Sie werden uns sicherlich aufnehmen. Doch dazu müssen wir erst einmal unbemerkt aus der Stadt raus.« In dieser Nacht hatten sie alles Notwendige zusammengepackt, viel war es nicht, denn das Feuer hatte das Meiste vernichtet, aber ein paar kleine Sachen waren ihnen noch geblieben. Ganz leise stahlen sie sich aus dem Haus des Schustermeisters, bei welchem sie untergekommen waren. Wolfram hielt beide dazu an, sich ruhig zu verhalten und ihm einfach zu folgen. Sie schlichen durch die Stadt. Bertrams Herz klopfte laut als ihm plötzlich einfiel: »Wolfram, was ist mit der Stadtmauer, die Tore sind zu. Wie kommen wir hier denn heraus?« – »Mach dir darüber keine Sorgen, ich habe alles genau geplant, Bertram. Ich kenne eine Stelle, an der wir über die Mauer klettern können. Ein Freund von mir spannt ein dickes Seil. Daran lasse ich euch beide langsam herunter. Ihr müsst nur leise sein.« Bertram nickte tapfer. Fest umklammerte er die kleine Hand seiner Schwester und zog sie mit sich. Der Freund seines Bruders wartete bereits ungeduldig an der Mauer auf sie. »Wo bleibt ihr denn?« Er klang aufgeregt. »Ich dachte ihr kommt überhaupt nicht mehr.« Er sprach sehr leise und Bertram hatte Mühe ihn zu verstehen. Wolfram reichte ihm die Hand und sofort begannen sie das Seil über die Mauer zu spannen. Sorgfältig umwickelte Wolfram seine Geschwister mit dem Ende des Seiles, verknotete es und meinte zu seinem Bruder: »Du musst Anna von der Mauer fernhalten, Bertram.« Langsam ließen sie Anna und Bertram an der Außenmauer herab. Anna wimmerte leise. Leicht zitternd presste sie sich an ihren Bruder. Der wiederum musste seine gesamte Kraft aufbringen, um sie beide von den scharfen Kanten der Mauervorsprünge fernzuhalten. Mehrmals riss er sich die Haut an seinen Händen auf, doch kein einziger Laut entwich seinen Lippen …

(Ende Leseprobe)